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Erkrankungen des peripheren Nervensystems und der Muskulatur

Erkrankungen des peripheren Nervensystems und der Muskulatur

Schwache Beine

Diese Erkrankungen werden auch als „neuromuskuläre Erkrankungen“ oder „Erkrankungen der unteren motorischen Neurone“ bezeichnet. Leitsymptome bei der Untersuchung sind fehlende Gliedmaßenreflexe und Muskelatrophie.

Bei Erkrankungen der peripheren Nerven und Muskeln sind die spinalen Reflexe reduziert oder fehlen, der Muskeltonus ist reduziert und es entwickelt sich – von einigen Muskel- und Endplatten­erkrankungen abgesehen – schnell eine aus­geprägte neurogene Muskelatrophie. Wenn die Tiere noch laufen können, zeigen sie häufig das Leitsymptom anstrengungsabhängige Schwäche. Zu ­Beginn des Spaziergangs ist der Bewegungs­ablauf oft noch nicht eingeschränkt, aber dann setzen oder legen sich die Hunde/Katzen zunehmend häufiger hin und zeigen auch Hecheln und Maul­atmung. Diese Symptomatik ist somit deutlich anders als bei degene­rativen Gelenkserkrankungen, in deren Verlauf sich die ­Patienten oft zu Beginn in der Bewegungsfähigkeit eingeschränkt zeigen und dann „einlaufen“. Neuromuskuläre Erkrankungen ­können sich auch im Bereich der Gehirnnerven manifestieren, z.B. mit beidseitiger Kaumuskelatrophie, Megaoesophagus oder ­Larynxparese.


Lokalisation von Erkrankungen der peripheren Nerven und Muskeln

Die Elektromyografie bzw. elektrodiagnostische Untersuchung ist eine sinnvolle Ergänzung der klinischen neurologischen ­Untersuchung, wenn Verdacht auf eine neuromuskuläre Erkrankung besteht.

Insgesamt hat die elektrodiagnostische Unter­suchung folgende Zielsetzungen:

// Bestätigung des klinischen Verdachts einer neuromuskulären Erkrankung

// Identifizierung weiterer subklinisch erkrankter Muskelgruppen

// Erfassung des Verteilungsmusters der Erkrankung in der Muskulatur

// Unterscheidung von Muskelerkrankungen, peripheren ­Neuropathien, Nervenwurzel- bzw. Endplattenerkrankungen mit der kombinierten Anwendung mehrerer elektromyografischer und elektroneurografischer Untersuchungstechniken

// Bei fokalen Nervenläsionen kann anhand der Stimulierbarkeit des peripheren Nerven und des EMG-Befunds auch auf die Prognose zurückgeschlossen werden.


Akute Lähmung mit fehlenden Reflexen an allen Gliedmaßen bei einem Hund mit Botulismus


Fehlender Zwischenzehenreflex bei einem Hund mit akuter Polyradikulitis

Mit dem EMG können erkrankte Muskeln und Muskelgruppen ­anhand von Denervationspotenzialen identifiziert werden. Das EMG dient zum Screening, ob eine Erkrankung der unteren motorischen Neurone vorliegt. Veränderungen werden sowohl bei ­Myopathien als auch bei Neuropathien gesehen. Pathologische Spontanaktivität kann in Form von positiven scharfen Wellen, ­Fibrillationspotenzialen oder komplex-repetitiven Entladungen von der Muskulatur abgeleitet werden, wenn eine Myopathie oder eine Neuropathie vorliegt. In einem nächsten Schritt wird mithilfe der Nervenleitgeschwindigkeitsmessung und F-Wellen-Untersuchung die Leitung im peripheren Nerven beurteilt und mithilfe der repetitiven Nervenstimulation die neuromuskuläre Übertragung untersucht. Alle elektrodiagnostische Untersuchungen werden ­üblicherweise in Narkose durchgeführt. Prinzipiell lassen sich ­generalisierte und fokale Erkrankungen der peripheren Nerven und Muskeln unterscheiden:

Generalisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems und der Muskulatur

Bei den generalisierten Erkrankungen der peripheren Nerven und Muskeln wird nach der ­Lokalisation zwischen Erkrankungen der ventralen Nervenwurzeln, der peripheren Nerven, der neuromuskulären Endplatte und der Muskulatur unterschieden. Außerdem ist aus klinischer Sicht zwischen Krankheiten mit akuter Präsentation und dem Leitsymptom akute schlaffe Lähmung und Krankheiten mit chronischem Krankheitsverlauf und dem Leitsymptom anstrengungs­abhängige Schwäche zu unterscheiden.


Krankheiten mit akuter Präsentation

Die oben genannten Krankheiten können sich alle mit einer akuten Tetraparese oder Tetraplegie mit Verlust der willkürlichen Bewegungs­fähigkeit der Gliedmaßen präsentieren. Der Muskeltonus ist reduziert. Es liegt eine schlaffe Lähmung vor. Die spinalen Reflexe (Patellarreflex, Flexor­reflex) sind ebenfalls reduziert oder ­fehlend (Ausnahme: Myasthenia gravis, hier ­Reflexe oft länger erhalten). Sensorium und Schmerzwahrnehmung sind nicht ­beeinträchtigt. Bei der Polyradikulitis entwickelt sich die Tetraparese häufig innerhalb von fünf bis sieben Tagen und immer innerhalb von zwei Wochen. Bei Botulismus entwickelt sich die Tetraparese/Tetraplegie oft schnell im Verlauf eines Tages bis innerhalb dreier Tage. Bei Myasthenia ­gravis kann sich unvermittelt eine schlaffe Lähmung entwickeln, häufig haben die Tiere aber schon länger Symp­tome einer ­anstrengungsabhängigen Schwäche gezeigt. Bei den meisten dieser akuten neuromuskulären Erkrankungen tritt, wenn der Verlauf unkompliziert ist, eine Selbst­heilung ein z.B. bei der häufigen Polyradikulitis innerhalb von sechs Wochen, bei Botulismus innerhalb von zwei bis drei Wochen. Eine Selbstheilung wurde auch bei akuter ­nekrotisierender Myopathie, die mit hochgradig erhöhten Muskelenzymen und der Notwendigkeit der Beatmung einherging, beschrieben.

Diagnosen

Die Diagnose einer Polyradikulitis beruht auf den neurologischen Symptomen, dem akuten Krankheitsverlauf und den Befunden der elektrodiagnostischen Untersuchung. ­Liquoruntersuchung und Muskel-/Nerven­biopsien sowie Neospora-Serologie werden zum Ausschluss anderer Krankheits­­ur­sachen empfohlen. Deutlich hinweisend auf eine Polyradikulitis ist der Nachweis von hochgradiger Spontanaktivität in allen proximalen und distalen Gliedmaßenmuskeln ab Tag 7 nach Beginn der ersten Symp­tome. Die Diagnose Botulismus beruht auf den ­klinischen Symptomen und dem Vorbericht (mögliche Aufnahme von ver­dorbenem ­Futter). Die Gehirnnerven sind im Gegensatz zur Polyradikulitis häufiger betroffen (z.B. Mydriase). Die elektro­diagnostische Untersuchung ist auf dem Peak der Erkrankung häufig noch unauf­fällig bzw. es ­zeigen sich dezente Veränderungen in der Stimulierbarkeit des peripheren Nerven (niedrige ­Amplitude, Amplitudenabfall oder Anstieg bei wiederholter Sti­mulation). Später kann im Verlauf auch Spontan­aktivität auftreten. Die Diagnose Myasthenia gravis beruht auf dem Nachweis von Antikörpern gegen Acetylcho­lin­rezeptoren mittels RIA im Hundeassay ­(Labor Shelton, USA). Im ­Notfall wird auch die eindeutige klinische Verbesserung nach Injektion von kurz­wirkenden Acetyl­cho­linestera­sehem­mern z.B. Edrophonium­chlorid oder Neostigmin als hinweisend ­betrachtet. Begleitend kann der ­Lidschluss reduziert oder der Schluckvorgang beeinträchtigt sein. ­Meistens liegt auch ein Megaoesophagus vor. Eine akute Präsentation in einer myasthenen ­Krise wird häufiger bei der Katze beobachtet. Myasthenia gravis kann auch als paraneoplastisches Syndrom bei ­Thymom auftreten. Die Elektrodiagnostik zeigt ­einen Amplitudenabfall bei wiederholter repetitiver Nervenstimulation. Eine Rhabdomyolyse lässt sich anhand hoch­gradig erhöhter ­Creatininkinasewerte vermuten.

Therapie

Wichtig ist, dass die Patienten in der akuten Phase Unterstützung erhalten. Man sollte sich nicht scheuen, den Patienten beim Auftreten respiratorischer Schwierigkeiten zu intubieren und gegebenenfalls auch für eine gewisse Zeit zu beatmen. Die Gabe von ­Botulinusantitoxin C/D ist nur gegen freies ungebundenes Toxin gerichtet und beeinflusst die Ausprägung der Krankheit nur, wenn dieses sehr früh im Krankheitsverlauf gegeben wird. Eine spezifische Therapie ist bei der Myasthenia gravis erforderlich: ­Pyridostigmin zwei- bis dreimal täglich 0,5–2 (–3) mg/kg p.o., gegebenenfalls auch initial i.v. zur symptomatischen ­Therapie als lang wirkender Cholinesterasehemmer ­sowie ­gegebenenfalls zusätzliche immunsuppressive Therapie (Azathioprin, Mycophenolat-Mofetil, Ciclosporin, evt. auch humane Immunglobuline), falls kein Megaoesophagus und keine Aspirationspneumonie vorliegen. Von der Gabe von Glukokortikoiden in immunsupprimierender Dosis wird abgeraten, weil diese eine neuromuskuläre Schwäche potenzieren können. Zusätzlich ist ein intensives Fütterungs­management bei Megaoesophagus für das Überleben entscheidend. Es wurde gezeigt, dass auch bei Myasthenia gravis bei > 50% der Hunde, die als junge adulte Tiere erkranken, eine Selbstheilung nach sechs Monaten eintreten kann. Wir konnten dies auch im ­eigenen Patientengut mit Resolution des Megaoesophagus beobachten. Dies sollte motivieren, erkrankte Hunde auch über Monate intensiv zu behandeln. Anders stellt sich die Situation dar, wenn ­Myasthenia gravis als paraneoplastisches Syndrom in Zusammenhang mit einem Tumor wie einem Thymom oder einem anderen Tumor auftritt. Hier ist die Entfernung des Tumors entscheidend. Insgesamt ist trotz der schweren neurologischen Symptome in dieser Krankheitsgruppe die Langzeitprognose oft nicht ungünstig.

Andere Erkrankungen der peripheren Nerven und Muskeln, die mit dem Symp­tom episodischer Kollaps einhergehen ­können und somit möglicherweise differenzialdiagnostisch für die oben genannten akuten neuromuskulären Erkrankungen berücksichtigt werden müssen, sind Hypo- und Hyperkaliämie, die zentronukleäre Myopathie beim Labrador Retriever und exercise-induced ­collapse beim Labrador Retriever. Auch können die unten ­folgenden Krankheiten, die eher zu einer chronisch progressiven unteren motorischen Neuron-Symptomatik führen, mit akuten Schüben einhergehen:


Krankheiten mit vorwiegend chronischer Präsentation


Fokale neuromuskuläre Erkrankungen

Einige Polyneuropathien werden zusätzlich durch das Auftreten von Larynxparalyse kompliziert. Bei vielen neuromuskulären ­Erkrankungen ist Megaoesophagus eine weitere Komplikation. Bei Muskelerkrankungen kann das Gangbild durch Muskelatrophie und Steifheit der Muskulatur bestimmt werden.

Neben der Diagnose, die anhand der neurologischen Unter­suchung und Elektrodiagnostik gestellt wird, ist für eine eindeutige Zuordnung oft die Entnahme von Muskel- und Nervenbiospien essenziell. Nur so kann zwischen degenerativen und entzündlichen Erkrankungen unterschieden werden. Für einige genetisch ­bedingte Erkrankungen der Muskeln und Nerven stehen inzwischen ­Gentests zur Verfügung.

take home

Anstrengungsabhängige Schwäche und Muskelatrophie sind Leitsymptome einer neuromuskulären Erkrankung.

Foto: © panthermedia | BFegert

Stichwörter:
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HKP 6 / 2014

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe HKP 6 / 2014.
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