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Neurogene Lahmheiten beim Kleintier

Neurogene Lahmheiten beim Kleintier

Schmerz lass nach!

In der tiermedizinischen Neurologie wird anhand der klinischen Symptome und Ausfallserscheinungen die Lokalisation einer Läsion innerhalb des Nerven­systems angestrebt. Allerdings setzt das voraus, dass das Leitsymptom bereits auf eine Lä­sion innerhalb des Nervensystems hindeutet.

Gerade in diesem Punkt kann es zu Fehlinterpretationen kommen, da nicht nur Lähmungen, sondern oftmals auch Lahmheiten einer Gliedmaße Ausdruck einer Funktions­beeinträchtigung der spinalen Nerven oder des Rückenmarks sein können. Das klinische Bild einer orthopädischen oder einer neuro­genen Lahmheit ist nicht immer eindeutig einem der Organsysteme zuzuordnen.

Anatomie – verlass mich nie!

Die Aktivierung der Muskulatur und die Aufnahme sensorischer Informationen aus den Gliedmaßen werden über die peripheren Nerven und den Plexus an die appendikuläre Muskulatur bzw. das Rückenmark weitergegeben. Der Plexus brachialis und der Plexus lumbosacralis setzen sich aus einzelnen Nervenwurzeln zusammen, die aus den Öffnungen (Neuroforamina) zwischen den Wirbelkörpern der Halswirbelsäule heraus treten. Die Topografie des Nervenplexus der Gliedmaßen ist komplex und das System der Innervation der einzelnen Muskeln und Hautabschnitte umfangreich. Die Innervation eines Muskels erfolgt über einen Nerv, der aus mehreren Nervenwurzeln zusammengesetzt ist. Die Wurzeln entspringen aus mehreren Segmenten des Rückenmarkes. Dieses Überbleibsel der uralten segmentalen Struktur des Nervensystems dient den heutigen Wirbel­tieren als Schutz vor einem vollständigen Funktionsausfall einzelner Muskeln bei einem Trauma des Nervenplexus. Nach Abgang der Wurzeln kommt es zu einer ausgedehnten Verflechtung der Nerven, die die ursprünglich streng segmentale Anordnung der Nerven kaum noch erkennen lässt. Diese Verflechtung der Nerven und deren Ursprung aus mehreren Wurzeln macht es schwer, eine Läsion zu lokalisieren und setzt eine sehr sorgfältige Unter­suchungstechnik voraus.

Neuropathischer Schmerz

Neuropathische Schmerzen entstehen als direkte Folge einer Schädigung sensorischer Fasern des Nervensystems. Eine Abgrenzung gegenüber anderen chronischen Schmerzen, bei denen das Nervensystem intakt ist (nozizeptive Schmerzen), z.B. chronische Entzündungsschmerzen wie Arthrosen, erfordert eine genaue Anamnese und Untersuchung der Patienten. Bei den Letzteren sind die Mediatoren der Schmerzentstehung und Vermittlung eingeschaltet (Prostaglandine etc.), die durch den Einsatz von klassischen, nichtsteroidalen Antiph­logistika (NSAIDs) behandelt werden können. Bei neuropathischen Schmerzen ist der Einsatz von NSAIDs aber nicht wirksam, da diese Mediatoren nicht ausgeschüttet werden. Eine wichtige Information im Vorbericht ist daher das fehlende Ansprechen der Symptome auf NSAIDs.

Für die Beurteilung, ob eine Lahmheit aufgrund neuropathische Schmerzen besteht, ist es weiterhin wichtig, das Verteilungsmuster und die Stärke der Schmerzen einzuschätzen. Durch eine Läsion eines Nervens können plastische Veränderungen im peripheren und zentralen Nervensystem induziert werden, welche die Schmerzempfindung wesentlich verstärken. Solche patho­logischen Schmerztypen können auch beim Tier beobachtet werden. Eine Überempfindlichkeit gegenüber mechanischen Reizen, die ein gesundes Tier nicht als Schmerz wahrnehmen würde, wird als Allodynie bezeichnet. Diese ist ein wichtiges Charakteristikum für neuropathische Schmerzen. Ein neuropathischer Schmerz ist immer dann zu vermuten, wenn die auftretenden sensorischen Störungen oder Schmerzen dem Versorgungsgebiet eines sensorischen Nervs entsprechen. Für die Diagnose von neuropathischen Schmerzen ist es daher sehr hilfreich, den Ursprung der Nerven mit ihrem Verlauf, die vom Nerven motorisch versorgten Muskeln und dem sensiblen Einzugsgebiet der Hautoberfläche (kutane Innervationszonen) genau zu kennen.

Anamnese bei neuropathischen Schmerzen

Allodynische Schmerzen können bei bestehenden radikulären Schmerzen in der Halswirbelsäule beim Streicheln über Kopf und Hals, Bürsten oder bei Zerrspielen ausgelöst werden. Bei Läsionen der peripheren Nerven kann man im muskulären und sensorischen Versorgungsgebiet eines Nerves Schmerzen entstehen und bei Manipulation einer Gliedmaße ausgelöst werden, wodurch oftmals seitens des Besitzers der Verdacht eines orthopädischen Problems entsteht. In fortgeschrittenen Fällen ergibt sich bei betroffenen Patienten eine intermittierende Lahmheit Grad 4, bei der bereits das Gewicht auf der Gliedmaße einen mechanischen Reiz darstellt, der als unaushaltbarer Schmerz empfunden wird. Bei Belastung werden diese Schmerzen in der Regel stärker. Die Beurteilung der Schmerzqualität, die in der Diagnostik neurogener Schmerzen beim Menschen der zentrale anamnestische Anhaltspunkt ist, kann beim Tier leider nicht beurteilt werden. Ein Hinweis auf Parästhesien, also anhaltende, nicht schmerzhafte Fehlempfindungen, kann ein dauerhaftes Belecken oder Kratzen an einer Gliedmaße sein.

Neurologische Untersuchung

Da sich die Schmerzen im muskulären Versorgungsgebiet des Nervens fokussieren, versuchen die Tiere, eine Entlastungshaltung einzunehmen. Bei radikulärem Schmerz in Verbindung mit Veränderungen der Neuroforamina und Schmerzen im Plexus brachialis ziehen Hunde die Gliedmaße oft kurzfristig an („root signature“), nach einiger Zeit belasten sie die Gliedmaße aber wieder. Bei Kompression von Anteilen des N. ischiadicus verlagern die Tiere ihre Muskelspannung auf Muskeln, die nicht vom Ischiasnerv versorgt werden. Die Mm. semimem­branosus und – semitendinosus sind bei Palpation vergleichsweise weich, während bei Untersuchung der Quadricepsmuskulatur eine Verhärtung auffällt. Da bei der Beeinträchtigung nur einer Nervenwurzel der gesamte Nerv die Funktion der versorgten Muskeln aufrecht- halten kann, zeigen sich hierbei nahezu keine motorischen Ausfälle bzw. können diese nur mit Schwierigkeiten von der Lahmheit des Patienten unterschieden werden. Eine Sensibilisierungsstörung der Haut oder sogar Reflexeinbußen werden aufgrund der redundanten Versorgung genauso wenig beobachtet wie die selektive Atrophie eines Muskels.

Die Entwicklung eines allodynischen Schmerztyps kann aber insofern zur Diagnostik herangezogen werden, als dass in den kutanen Innervationszonen oder der Muskulatur bereits durch leichten Druck auf das Gewebe eine Schmerzreaktion hervorgerufen werden kann. Bei Läsionen weiter distal im Nerv ist hingegen mit einem deutlichen Funktionsausfall zu rechnen. Störungen der Reflex­tätigkeit und fokale Muskelatrophien (Abb.1a) sind am besten im Vergleich zur kontralateralen Gliedmaße zu beurteilen (Abb.3a). Bei dem Verdacht einer Läsion im Plexus müssen der Cutaneus trunci-Reflex (Pannikulusreflex) sowie der Pupillenreflex und die Pupillengröße mitbeurteilt werden. Dies ergibt sich aus der topografischen Verbindung des Plexus mit dem Nervus thoracicus lateralis, der auf beiden Körperseiten den Pannikulusreflex vermittelt. Fasern des sympathischen Nervensystems verlassen an den thorakalen (TH) Rückenmarssegmenten TH1-Th3 das Rückenmark und laufen als Truncus sympathicus durch den Plexus brachialis. Bei Läsionen innerhalb des Plexus kann es durch die topografische Nähe zu diesen beiden Nervenelementen zu einem Hornersyndrom mit Miosis, Ptosis und Enophthalmos der betroffenen Seite (Abb.1b) und zum Ausfall des Pannikulusreflexes kommen. Bei Läsionen distaler Nerven sind diese Reflexe aber ungestört.

Eine Palpation der Achselgegend kann bei größeren Läsionen im Plexus den Befund einer Umfangsvermehrung erbringen. Bei der Überprüfung auf eine Schmerz­antwort bei Druck auf den Plexus muss bedacht werden, dass eine starke Druckausübung auch bei gesunden Tieren eine Abwehrreaktion hervorrufen kann. Es sollte auch hier in Erwägung gezogen werden, dass der neuropathische Schmerz oft bereits bei ggr. Stimuli ausgelöst werden kann. Bei zervikalem radikulären Schmerz ist die Muskulatur der Halswirbelsäule verspannt. Durch den funktionellen Zusammenhang der Muskeln beschränkt sich diese Verspannung selten auf nur einen segmentalen Muskel, sondern ist fast auf der gesamten Seite der Läsion zu finden. Gezielter Druck kann neuropathischen Schmerz auslösen. Auch bei der Untersuchung der Halswirbelsäule muss darauf geachtet werden, dass viele Hunde die Mobilisierung der Halswirbelsäule auch ohne das Vorliegen einer Läsion als unangenehm empfinden.

Typische Auslöser für neuropathische Schmerzen:

Der intraforaminale Bandscheibenvorfall

Degenerationen des Anulus fibrosus der Bandscheibe führen i.d.R. zu Formveränderungen der Bandscheibe in Richtung des Rückenmarks. Bei fokaler Belastung kann es aber auch zu einer seitlichen Bandscheibenprotrusion kommen, die den Abgang einer Nervenwurzel im Neuroforamen irritiert. Das Ausmaß der Protrusion kann durch Flexion und Extension des Halses oder auch durch seitliche Abbiegung verstärkt werden und eine plötzliche Druckbelastung der Nervenwurzel hervorrufen. Die Hunde zeigen eine Lahmheit Grad 1-2, die sich aber intermittierend massiv verstärken kann. Verspannungen der Halsmuskulatur mit darauf folgender Reizung sensibler Nerven führen in einen Teufelskreis der Schmerzentstehung und -erhaltung. Herkömmliche Kontraströntgenverfahren (Myelografie) sind nicht in der Lage, solche Veränderungen darzustellen. Erst Schnittbildverfahren können die intraforaminalen Veränderungen diagnostizieren. Aufgrund des andauernden Reizes ist eine medikamentelle Therapie allein nicht erfolgversprechend. Eine dekompressive Operation und die Freilegung des Nervens bildet die Grundlage der Behandlung, die aber dann mit einer stationären multimodalen Schmerztherapie ergänzt werden sollte. Unter Einsatz einer Kombination aus Morphinderivaten, entzündungshemmenden Medikamenten und Gabapentin kann postoperativ langfristig Schmerzfreiheit erzielt werden.

Der Nervenwurzeltumor

Aufgrund der Beeinträchtigung des dorsalen Wurzelgangions sind Nervenwurzel­tumoren oftmals sehr schmerzhaft und führen zu hochgradigen Lahmheiten. Die Tiere fallen oftmals schon im Wartezimmer durch ihre Lautäußerungen auf, NSAIDs waren nicht schmerzlindernd. Bei Tumoren im Neuroforamen und im Plexusbereich kann die Abduktion der Gliedmaße hgr. schmerzhaft sein. Auch die Palpation der Achsel­gegend führt zu Schmerzreaktionen. Nervenwurzeltumoren sind nur mit großem Aufwand zu diagnostizieren. Nur in Ausnahmefällen ist ein Plexustumor selbst palpabel, da er dazu eine gewisse Größe erreichen muss (Abb.2a). In der Regel sind diese Neoplasien klein und nur als ggr. Umfangsvermehrung des Nerven zu erkennen. Mithilfe hochauflösender Sequenzen können sie durch eine Magnetresonanztomografie unter Einsatz von Kontrastmitteln nachgewiesen werden (Abb.2b). Soll der Tumor behandelt werden, muss schnell gehandelt werden, da die Tumoren sich in Richtung Rückenmark ausdehnen (Abb.2c).


Abb.1 a+b a. Ausgedehnte Atrophie der Schultergürtelmuskulatur durch einen Nervenscheidentumor im Plexus brachialis. Die Spina scapulae ist durch die verminderte Muskelmasse des M. supra- und infraspinatus deutlich sichtbar. b. Hornersyndrom durch Beeinträchtigung des Truncus vagosympaticus im Plexusbereich. Man erkennt deutlich das vorgefallene dritte Augenlid (gelber Pfeil) die ungleich großen Pupillen und das hängende Augenlid auf der betroffenen Seite.


Abb.2 a. Transversale Magnet-Resonanz Tomografie eines Hundes mit einer großen granulomatösen ­Entzündung im Plexus durch einen eingespießten und gewanderten hölzernen Fremdkörper. b. Transversale Magnet-Resonanz Tomografie eines Hundes mit einem kleinen spindelförmigem Tumor eines Nerven des Plexus brachialis. c. Dorsale Magnet-Resonanz Tomografie eines Hundes mit einem Tumor der ­Nervenwurzel, der in den Wirbelkanal eingewandert ist und das Rückenmark komprimiert.

Der periphere Nervenscheidentumor

Bei peripheren Nervenscheidentumoren ergibt die Ganganalyse zu Beginn lediglich eine Stützbeinlahmheit Grad 1. Bei Palpa­tion der Gliedmaße zeigen betroffene Hunde eine hochgradige Schmerzäußerung bei Mobilisation der Gliedmaße, die nach dem Loslassen des Laufes weiter­besteht. Die deutlichsten Anzeichen im Bereich der Vordergliedmaße sind bei Läsio­nen des Nervus radialis zu sehen. Bevor ein vollständiger Funktionsausfall der langen Zehenstrecker und Ellbogenstrecker eintritt, kann man die Muskelatrophie beobachten (Abb.3a). Die zugehörigen Reflexe (Extensor carpi radialis Reflex) können herabgesetzt sein, was oft erst im Seitenvergleich zu ermessen ist. Bei Palpation der Gliedmaße kann eine Umfangsvermehrung im Verlauf des Nervens zu tasten sein. Ein selektiver Sensibilitätsausfall oder eine Sensibilitätssteigerung in der Inner­vationszone der Gliedmaßennerven kann auffallen. Ein Nerventumor außerhalb des Plexus kann oft mittels Ultraschalluntersuchungen nachgewiesen werden (Abb.3c).


Abb.3 a,b+c a. Dorsale Aufsicht auf die Vordergliedmaßen eines Hundes mit Nervenscheidentumor des N. radialis der rechten Vordergliedmaße. Die Beeinträchtigung des Nerven führt zu einer Atrophie des M. extensor carpi radialis. b. Chirurgischer Zugang und Exposition zum Nerventumor. Die Zubildung stellt sich als spindelförmige, noduläre Masse dar. Die Morphologie des Tumors lässt sich im korrespondierenden Ultraschallbild (Abb. 3c) sehr gut nachvollziehen.


Abb.4 Transversales Bild einer Computer Tomografie der Halswirbelsäule eines Hundes mit einem intraforaminalen Banscheibenvorfall mit Kompres­sion der abgehenden Nervenwurzel.

Foramenstenose L7/S1

Der N. ischiadicus hat drei Wurzeln, von denen eine am lumbosakrale Übergang (L7/S1) den Spinalkanal verlässt. Durch degenerative Veränderungen eines Neuro­foramens kann es zu Kompression der Hauptwurzel kommen (Abb.5 a/b). Der Nerv beginnt, sich durch die Irritation zu verdicken und zu entzünden. Das klassische Bild des Cauda equina Kompressions Syndroms wird hierbei nicht gesehen, da bei einer Foramenstenose die anderen Nerven der Cauda nicht beeinträchtigt sind. Eine Foramenstenose kann auch durch eine erhebliche Instabilität des lumbosakralen Überganges entstehen, der zu einer intermittierenden Stenose der Foramina und Kompression des Nervenabganges führt, die sich nur in einer Lahmheit eines Hinterlaufes äußert.


Abb.5 Transversale und sagittale Magnet-Resonanz-Tomografie eines Deutschen Schäferhundes mit Einengung des Neuroforamens am Übergang Lendenwirbelsäule zum Kreuzbein (L7/S1). Der abgehende Nerv wird in hohem Maße komprimiert. Dies verstärkt sich noch in der Bewegung der Wirbel zueinander, vor allen Dingen bei Extension der Lendenwirbelsäule, wie beim Springen.

take home

Lahmheiten können durch Läsionen von peripheren Nerven verursacht werden, die klinisch schwer von orthopädischen Problemen zu unterscheiden sind. Fokale Muskelatrophien, hochgradige Schmerzen ohne erkennbaren Auslöser und das mangelnde Ansprechen der Schmerzen auf konventionelle Schmerzmedikament sind ein wichtiger Hinweis auf neuropathische Schmerzen bei Läsionen der Nerven.

Foto: © istockphoto.com, davejkahn

Stichwörter:
Anatomie, Neuropathischer Schmerz, Nervensystems, NSAIDs, Neurologische Untersuchung, allodynischen Schmerztyps,

HKP 1 / 2014

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe HKP 1 / 2014.
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