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HKP-7-2013 > Chipfrakturen am Reißzahn des Oberkiefers

Chipfrakturen am Reißzahn des Oberkiefers

Nicht mehr bissfest

Frakturen der Backenzähne kommen beim Hund häufig vor. Bei der klinischen Untersuchung werden sie oft übersehen und noch häufiger bagatellisiert, nachdem die Patienten nur selten Schmerzen zeigen. Da aber jede Fraktur eines Zahnes Schmerzen bereitet und großes Potenzial für Komplikationen birgt, muss sie abgeklärt und behandelt werden.

Die Reißzähne sind die kräftigsten Zähne beim Hund. Beim Zubeißen können sie ­enormem Druck ausgesetzt sein, was zu einer Fraktur führen kann. Reißzahnfrakturen kommen hauptsächlich bei großen Rassen vor. Es ist inzwischen allgemein ­anerkannt, dass komplizierte Frakturen ­behandelt werden müssen, während unkomplizierte Frakturen häufig als Bagatelle abgetan werden.

Anatomie

Der Zahn besteht im Prinzip aus drei Schichten – Zahnschmelz, Dentin und Pulpa: Die Schmelzschicht ist sehr dünn (<0.7mm), komplett anorganisch und besteht fast ausschließlich aus Kalzium und Phosphor. Sie ist die härteste Substanz im Körper. Die ­innerste Schicht, der Wurzelkanal, enthält Blutgefäße und Nerven, die den Zahn zeitlebens versorgen. Sie treten durch kleine Versorgungskanälchen an der Wurzelspitze in die Pulpahöhle ein. Die mittlere Schicht, bei Weitem die größte beim ausgewachsenen Patienten, besteht aus Dentin. ­Dentin hat einen ähnlichen Mineralstoffgehalt wie Knochensubstanz, wird nerval versorgt und kann auf Noxen reagieren. Es besteht aus kleinen Tubuli, die im rechten Winkel zur Pulpahöhle von dieser bis zum Zahnschmelz reichen. In diesen Kanälchen herrscht ein Kapillarfluss und jedes davon hat am äußeren Ende einen kleinen Fortsatz (odontoblastic process), der sensorische Reize als Schmerzimpuls übermitteln kann. Pro Quadratmillimeter gibt es ca. 50.000 solcher Tubuli.

Chipfraktur (slab fracture)

Bei der klassischen Chipfraktur handelt es sich um eine Absplitterung von Schmelz und Dentin, ohne dass die Pulpahöhle verletzt wird. Das abgesprengte Fragment kann nur die Krone betreffen (Kronenfraktur) oder bis unter das Zahnfleisch gehen (Kronen-Wurzel-Fraktur) (Abb. 1).

Abb. 1a


Abb. 1b a Chipfraktur, die sich auf die Zahnkrone beschränkt oder b bis zur Zahnwurzel ausdehnt.


Abb. 2a


Abb. 2b a Schwellung oder b Fistel unter dem Auge als typisches Zeichen einer periapikalen Abszedierung.


Abb. 3 Komplizierte Chipfraktur eines Reißzahns, bei der das Fragment noch im Zahnfleisch steckt.

Auswirkungen einer Chipfraktur

Aufgrund der geringen Schichtdicke des Zahnschmelzes gibt es bei Hunden keine reine Schmelzfraktur, es wird immer Dentin frei gelegt. Der Verlust der schützenden Schmelzschicht führt zu einer Veränderung der Fließgeschwindigkeit in den Dentin­tubuli, was als Schmerz empfunden wird. Vor allem Hitze und Kälte werden als ­unangenehm empfunden (ähnlich einem freiliegenden Zahnhals bei Zahnfleischschwund). Diese Empfindlichkeit ist ein Anzeichen für eine leichtgradige Pulpitis. Der Schmerz lässt nach ein paar Monaten nach, weil die Pulpahöhle auf der Innenseite mit Reparaturdentin abgedichtet wird, das keine sensiblen Endigungen aufweist. Es kann auch vorkommen, dass einzelne Bakterien durch die offenen Tubuli in die Pulpa vordringen. In der Folge kann es zu einer Infektion der Pulpahöhle kommen. Da die Dentintubuli zu eng sind, breiten sich die Infektion und die daraus resultierende Entzündung durch die Versorgungskanälchen im Apex aus und infiltrieren den Knochen. In ca. 2% der Fälle kann es zu einer Infektion mit daraus folgender ­Abszess- oder Fistelbildung kommen. ­Diese Patienten zeigen eine deutliche Schwellung unter dem Auge, was oft als Bienenstich, Infekt oder Tumor abgetan wird (Abb. 2). Die Zeitspanne vom Ereignis bis zur Fistelung ist sehr lang und sehr schmerzhaft. In einer solchen Situation bleibt nur noch die Extraktion des Zahns. Eine besondere Situation herrscht, wenn der Splitter noch im Zahnfleisch steckt (Abb. 3). Das kann zu sehr starken Schmerzen führen. Unter Umständen können die Tiere bei der Untersuchung unerwartet heftig reagieren. Die Behandlung besteht aus der Entfernung des Fragments, der Blut­stillung und der Versiegelung, falls die Bruchstelle nicht zu weit unter das Zahnfleisch reicht.


Abb. 4a


Abb. 4b


Abb. 4c


Abb. 4d


Abb. 4e


Abb. 4f

Abb. a–f LILI (Kromfohrländer, 6-jährig): a Die komplizierte Fraktur des oberen Reisszahns rechts vor und nach b der Reinigung zeigt im Röntgenbild relativ geringe Auswirkungen c, während die unkomplizierte Chipfraktur des oberen linken Reisszahns d + e radiologisch massive Veränderungen um die Wurzelspitzen zeigt f.

Oft trügt der Schein

Das klinische Erscheinungsbild einer frak­turierten Zahnkrone sagt überhaupt nichts aus über die Auswirkungen im Wurzel­bereich. So genannte Bagatellfrakturen können massive Veränderungen zur Folge haben. Manchmal hat es den Anschein, dass die Auswirkungen auf den Alveolarknochen größer sind, je unspektakulärer die Fraktur erscheint (Abb. 4).

Untersuchung

Zur Begutachtung der Zähne am wachen Tier wird das Maul in einem ersten Schritt gar nicht geöffnet, sondern nur die Oberlippen werden angehoben. Das erlaubt bei den meisten Hunden einen ersten Augenschein. Die genaue Untersuchung erfolgt in Narkose:

// Mit einer Zahnsonde wird die ganze Oberfläche des Zahns untersucht. Über intakten Zahnschmelz gleitet die Dentalsonde wie über Glas. Dentin ist viel weicher und rau, die Sonde bleibt „hängen“ (Abb. 5). Wichtig ist, dass die ganze Bruchstelle genau geprüft wird, um abzuklären, ob noch eine Fraktur/­Fissurlinie vorhanden ist und ob die Pulpahöhle verletzt ist. Jeder „weiche“ Punkt ist verdächtig.

// Mit der Paradontalsonde wird nach vertieften Paradontaltaschen gesucht. Vor allem bei Chips, die unter die Gingiva reichen, besteht die Gefahr, dass eine Parodontitis entsteht (Abb. 6).

// Zur Abklärung eines endodontischen Geschehens ist eine radiologische ­Abklärung der Wurzeln unerlässlich. Am elegantesten und exaktesten geht das mit einer Dentalröntgen-Einheit, kann aber durchaus auch mit einer konventionellen Anlage durchgeführt werden. Die radiologischen Befunde müssen immer mit angemessener Vorsicht beurteilt werden. Wird die Aufnahme kurz nach dem Trauma erstellt, können noch keine Aufhellungen im Wurzelbereich erkannt werden (Latenzzeit ca. vier Wochen).

// Da Hunde in der Regel beidseitig auf ­harten Gegenständen kauen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch der Reißzahn der gegenüberliegenden Seite beschädigt ist. Deshalb muss immer ein Links-Rechts-Vergleich angestrebt werden.


Abb. 5 Aufgerautes Dentin nach einer Zahnfraktur (mit der freundlichen Genehmigung von Sabas Hernandez, Buenos Aires).


Abb. 6 Eine Kronen-Wurzel-Fraktur verletzte den gingivalen Saum und ermöglichte eine Periodontitis mit vertikalem Knochenverlust.

Therapie

Ziel der Behandlung ist, mit einer Versiegelung die sensiblen ­Endigungen der Dentintubuli abzudichten, um einerseits den Schmerz zu eliminieren und andererseits eine bakterielle Infektion zu verhindern:

// Zuerst wird der Zahn gereinigt und mit fluorfreier Paste poliert. Die Frakturstelle wird mit Handinstrumenten gereinigt. Die ­Ultraschallsonde würde das Dentin unnötig reizen.

// Die Frakturränder werden begradigt, indem unterminierter Schmelz abgetragen wird. Die Bruchstelle wird mit einem „white stone“ geebnet.
Zur Entfernung von Verunreinigungen und zum Aufrauen der Bruchstelle wird für 20 Sekunden ein Ätzgel aufgetragen.

// Das Ätzgel wird nach mindestens 30 Sekunden abgespült.

// Ein Haftvermittler (bonding agent) wird aufgetragen und ­polymerisiert.

Man muss sich aber vor Augen halten, dass eine Versiegelung nicht vor Druckeinwirkung schützt. Wenn die Pulpa durchschimmert, muss man unter Umständen eine etwas aufwändigere Methode anwenden. Auf jeden Fall sollte man die Besitzer anhalten, bei ihrem Tier Kauen auf harten Gegenständen zu unterbinden.

Nachverfolgung

Da man die Konsequenzen einer Chipfraktur auf die Vitalität eines Zahns nicht voraussagen kann, wird eine radiologische Kontrolle nach ca. einem Jahr empfohlen. Auch wenn bei der Erstunter­suchung radiologisch alles in Ordnung erscheint, können wir mit der Versiegelung nur ein Neueindringen von Bakterien verhindern, haben aber auf bereits penetrierte Bakterien keinen Einfluss.

take home

Jede Zahnfraktur, ob kompliziert oder unkompliziert, muss abgeklärt und behandelt werden. Bei Chipfrakturen sagt das klinische Erscheinungsbild der Zahnkrone nichts aus über die Verhältnisse im Wurzelbereich. Unscheinbare Frakturen können massive Veränderungen im periapikalen Bereich ­bewirken. Eine radiologische Untersuchung ist für eine seriöse Abklärung unerlässlich.

Info European Veterinary Dental Society (EVDS)

Die Gesellschaft ist eine Non-Profit-Organisation, gegründet 1992. Zu ihren Zielen zählen Bildung und Qualifizierung von europäischen Tierärzten in der Tier-Zahnheilkunde sowie Förderung klinischer zahnmedizinischer Forschung. Vom 06.– 10. Mai 2014 findet der Cruise Congress statt. Dieser außergewöhnliche Kongress, organisiert von EVDS und European Veterinary Dental College (EVDC), findet auf einem Kreuzschiff statt, das Barcelona, Ibiza, Savona und Marseille ansteuert.

www.evds.org

Foto: © istockphoto.com| RazoomGames

Stichwörter:
Reißzahnfrakturen, Dentin, Pulpa, Versorgungskanälchen, Pulpahöhle, Mineralstoffgehalt, Tubuli, Kapillarfluss, Dentin­tubuli, Reparaturdentin, Versorgungskanälchen, Fistelbildung, Fistelung, Bagatellfrakturen, Alveolarknochen, Dentalsonde, Dentalröntgen-Einheit, periapikalen,

HKP 7 / 2013

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe HKP 7 / 2013.
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Praxis und sollte unterhaltsame „Pflichtlektüre“ für das ganze Praxisteam sein.